Das Neue Haus

Fotos: Jadwiga Henkel, 12.04.2022

 

 

Das Neue Haus war die erste Asylunterkunft und zentrale Aufnahmestelle (ZASt) des Landes Thüringen. Alle Asylsuchenden, die zwischen 1991 und 1996 in Thüringen ankamen, mussten dort in einem aus Containern errichteten Amt ihren Asylantrag stellen. Anschließend wurden sie auf andere Orte umverteilt. Vom Neuen Haus aus steuerte das Land in diesen Jahren die Unterbringung von Geflüchteten in ganz Thüringen.

 


Als im Oktober 1990 die Gebiete der ehemaligen DDR der Bundesrepublik beitraten, übernahmen sie das westdeutsche politische System. In der DDR hatte es kein formelles Asylsystem mit Unterkünften, Behörden und Gerichten gegeben. Innerhalb kürzester Zeit musste das Land ein Asylsystem neu aufbauen. Laut Einigungsvertrag sollte Thüringen schon ab Jahresbeginn 1991 Asylsuchende aufnehmen. Die Thüringer Landesregierung richtete kurzfristig und ohne die Anwohner*innen zu informieren die zentrale Aufnahmestelle am Neuen Haus ein.



Nach westdeutschem Vorbild wählte die Thüringer Landesregierung das Neue Haus als Standort aus, weil der Ort abgelegen war und dort viele Menschen gleichzeitig untergebracht werden konnten. Zu DDR-Zeiten gehörte das Gelände der Gesellschaft für Sport und Technik (GST), die dort junge Menschen in Wehrlagern vormilitärisch ausbildete. Als die DDR zusammenbrach, wurde auch das GST-Lager geschlossen. Weil die neue Regierung unter Zeitdruck stand, kam ihr gelegen, dass am Neuen Haus alles schon bereitstand: Betten, Schränke, eine große Küche und Personal, das in der Versorgung vieler Menschen geübt war. Ohne größere Vorbereitungen zogen im Januar 1991 die ersten Geflüchteten im ehemaligen GST-Lager ein.



Die Bewohner*innen des Neuen Hauses kamen aus über 35 verschiedenen Ländern. Ein großer Teil der 1991 Geflüchteten hatte zusammenbrechende sozialistische Länder wie Rumänien oder die Sowjetunion verlassen. Später wohnten dort auch vor den Jugoslawienkriegen geflüchtete Menschen. In der zweiten Hälfte der 90er Jahre lebten viele Menschen aus ehemals kolonisierten Ländern am Neuen Haus, die wegen Krieg (z.B. Kongo oder Sierra Leone) oder politischer Verfolgung (z.B. Algerien) ihr Land verlassen hatten.



Anfangs war das Lager am Neuen Haus nur von einem löchrigen Stacheldrahtzaun umgeben. Nach einem rassistischen Brandanschlag auf die Asylunterkunft Ende September 1991 ließ die Thüringer Regierung einen hohen Metallzaun um die Gebäude bauen, der oben und auf der Innenseite mit Stacheldraht verstärkt war. Die Regierung bezeichnete den Zaun als Schutz für die Asylsuchenden. Für Besucher*innen und Bewohner*innen wirkte die Asylunterkunft dadurch aber wie ein Gefängnis. Nicht nur der Stacheldrahtzaun machte den Geflüchteten am Neuen Haus das Leben schwer. Sie litten unter der Enge, der Lautstärke, der Abgelegenheit, der Verpflegung aus der Gemeinschaftsküche und der schlechten medizinischen Versorgung.



In der Nacht vom 25.09.1991 griffen 20 Jugendliche aus Tambach-Dietharz die Asylunterkunft an. Sie jagten die Bewohner*innen aus den Häusern, zertrümmerten Telefone und Einrichtung und warfen Molotow-Cocktails. Es wurden keine Menschen verletzt. Der Brandanschlag war in dieser Zeit einer von vielen. Nur eine Woche zuvor hatte in Hoyerswerda ein rechtsextremer Mob begleitet vom Applaus der Bevölkerung die Wohnungen von Menschen angegriffen, die Asyl suchten oder als Arbeiter*innen in die DDR gekommen waren.



Der Zaun bestand aus über zwei Meter hohen Stahlmasten, über denen der Stacheldraht angebracht war. Auf der Innenseite des Zauns war am Boden NATO-Stacheldraht ausgerollt. Das Lager konnte nur durch einen Eingang mit elektrischem Drehkreuz betreten werden, nachdem man bei einem Wachmann seinen Ausweis abgegeben hatte. Weitere Wachleute patrouillierten mit Hunden über das Gelände.



1996 wurde das Lager bei Tambach von einer zentralen Aufnahmestelle in eine Gemeinschaftsunterkunft umgewandelt. Das bedeutete, dass die Bewohner*innen nicht nur wenige Tage oder Wochen blieben, sondern mehrere Monate oder Jahre an dem abgelegenen Ort im Wald leben mussten. Sie begannen sich zu organisieren, um gegen die Probleme ihrer Unterbringung zu protestieren. Sie gründeten ein Heimkomitee, das ihre Interessen vertreten sollte. Im August 1997 traten viele Geflüchtete in einen Hungerstreik, um auf die schlechte Qualität des Essens aufmerksam zu machen. Sie forderten, ihr eigenes Essen kochen zu dürfen. Die Polizei beendete den Protest gewaltvoll.



Nachdem in vielen Zeitungen über die Zustände im Lager berichtet worden war, beschloss die Landesregierung, Küchen einzubauen. Sie gab den Geflüchteten aber nur Gutscheine statt Geld für Lebensmittel. Weil keiner der Supermärkte in der Umgebung diese Gutscheine annehmen wollte, mussten Geflüchtete zum Einkaufen in das zehn Kilometer entfernte Friedrichroda fahren.



Die Geflüchteten wurden von solidarischen Gruppen außerhalb des Lagers unterstützt. Die migrantische Selbstorganisation „The Voice“ aus Jena, der niedersächsische Verein „Menschlichkeit“ und der Flüchtlingsrat in Erfurt machten die Proteste am Neuen Haus öffentlich. Auch die Tambach-Dietharzer Pfarrersfamilie und der Verein „L´amitié“ aus Gotha setzten sich für die Geflüchteten ein. Die meisten Menschen aus der Umgebung ignorierten allerdings die Umstände, unter denen Geflüchtete in ihrer Nähe lebten. Wenn die Bewohner*innen des Neuen Hauses im Nachbarort Tambach-Dietharz kleine Einkäufe machten, wurden sie teilweise rassistisch beleidigt oder auf dem Rückweg durch den Wald sogar angegriffen.


 

Die Bewohner*innen protestierten in den folgenden Jahren weiter gegen ihre abgelegene Unterbringung. Ab 1998 forderten sie die endgültige Schließung des Lagers. Auf dem Höhepunkt der Proteste im Jahr 2000 reichten sie eine Petition beim Thüringer Landtag ein. Mit ihrer Kundgebung unter dem Motto „Wir leben hinter Stacheldraht“ erregten sie am gleichen Tag die Aufmerksamkeit vieler Menschen auf dem Gothaer Marktplatz. Die Landesregierung verkündete schließlich, dass das Lager Tambach-Dietharz 2002 geschlossen wird. Bis dahin lief der Vertrag des Landes mit der Betreiberfirma des Lagers. Erst im August 2003 konnten die letzten Geflüchteten ausziehen.